Chronisches Müdigkeitssyndrom: ein Bluttest unterscheidet mit 100%iger Sicherheit zwischen gesund und krank

 

Für manche Patienten ist es darüber hinaus sinnvoll, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Viele fallen ja erst einmal in ein tiefes Loch, wenn sie plötzlich so krank werden, dass sie nicht mehr arbeiten können. In solch schweren Fällen ist es zudem wichtig, dass die Patienten einen anerkannten Behinderungsgrad erhalten.

Medscape: Wie ist die Prognose der Erkrankung?

Prof. Scheibenbogen: In den meisten Fällen handelt es sich leider um eine chronische Erkrankung. Es gibt aber auch Patienten, die wieder genesen. Dazu ist das Vermeiden von Überlastungen ebenso wie die symptomorientierte Therapie in jedem Fall hilfreich. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich auf diese Weise etwa jeder dritte Patient langsam wieder erholt.

Medscape: Mit welchen Vorurteilen haben die Patienten zu kämpfen? Und wie lässt sich dagegen angehen?

Prof. Scheibenbogen: Das größte Problem besteht darin, dass die Patienten in aller Regel als deutlich weniger krank anerkannt werden, als sie tatsächlich sind. Häufig müssen sich die Patienten Sätze anhören wie: „Ja, das kenne ich. Ich fühle mich auch oft so müde und ausgelaugt!“ Vielfach sehen die Patienten auch gar nicht so krank aus – was dazu führt, dass selbst Ärzte und Gutachter die Schwere ihrer Erkrankung unterschätzen und die Patienten dann z.B. Schwierigkeiten haben, ihre Erwerbsunfähigkeitsrente zu bekommen.

Quelle: Medscape - 01. Juni 2017

 

Das Chronische Fatigue-Syndrom (CFS), auch Myalgische Enzephalomyelitis (ME) genannt, wird in Häufigkeit und Schwere immer noch vielfach unterschätzt – zum Teil auch von Hausärzten. Viele Patienten erhalten oft lange Zeit gar keine oder eine falsche Diagnose, beklagt Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen, Leiterin des Instituts für Medizinische Immunologie der Berliner Charité. Die CFS-Expertin erläutert im Gespräch mit Medscape, woran ein CFS zu erkennen ist und welche Möglichkeiten der Behandlung es gibt.

Medscape: Schätzungen zufolge leben in Deutschland rund 300.000 Menschen mit CFS/ME. Für wie realistisch halten Sie diese Zahl?

Prof. Scheibenbogen: Es gibt zwar aus Deutschland keine aktuellen epidemiologischen Erhebungen, doch Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums aus dem Jahr 1993 deuten bei Erwachsenen auf eine Prävalenz von etwa 0,3% hin. Dieses Ergebnis passt zu neueren Daten aus anderen Ländern. Insofern halte ich die Zahl für sehr realistisch.

Medscape: Gibt es bestimmte Personengruppen, die besonders häufig daran leiden?

Prof. Scheibenbogen: Bei Frauen kommt die Erkrankung etwa doppelt so häufig vor wie bei Männern. Zudem ist sie in der Gruppe der 20- bis 40-Jährigen etwas häufiger als in anderen Altersgruppen. Daneben gibt es Faktoren, die das Risiko für ein CFS erhöhen, etwa Immundefekte oder Autoimmunerkrankungen, auch innerhalb der Familie.

Medscape: Was macht die ärztliche Diagnose so schwierig? Warum vergeht oft viel Zeit, bis die Patienten einen Arzt aufsuchen und die richtige Diagnose erhalten?

Prof. Scheibenbogen: Das kann ich nur schwer beurteilen. Ich weiß allerdings, dass viele Patienten oft lange ohne oder mit einer falschen Diagnose leben. Ihnen wurde etwa ein Burnout-Syndrom oder eine Depression attestiert. Häufig dauert es viele Jahre, bis die Krankheit richtig erkannt wird – was für die Patienten natürlich sehr belastend ist.

Wenn man die Krankheit kennt, ist die Diagnose eigentlich gar nicht so schwer zu stellen. International anerkannt sind z.B. die kanadischen Kriterien. Ihnen zufolge muss der Patient unter einem deutlichen Ausmaß einer neu aufgetretenen, anderweitig nicht erklärbaren, andauernden oder wiederkehrenden körperlichen oder mentalen Erschöpfung leiden, die eine erhebliche Reduktion des Aktivitätsniveaus zur Folge hat.

Jegliche Form von Belastung führt dabei zu Erschöpfung, Verstärkung des schweren Krankheitsgefühls und/oder Schmerzen, wobei der Patient mehr als 24 Stunden benötigt, um sich wieder zu erholen. Zudem verschlechtern sich die Symptome durch jede Art von Anstrengung oder Stress. Begleitet wird ein CFS grundsätzlich von Schlafstörungen und Schmerzen, etwa Muskel-, Gelenk- oder Kopfschmerzen.

Medscape: Gibt es auch Laborparameter, die man als Arzt ermitteln kann?

Prof. Scheibenbogen: Leider gibt es keine eindeutigen Labortests, mit denen sich das CFS diagnostizieren lässt. Wir beobachten zwar, dass bei vielen Patienten die LDH- und CK-Werte erhöht sind – aber spezifisch für die Erkrankung sind diese Veränderungen nicht. Welche Werte man, insbesondere zum Ausschluss anderer Krankheiten, ermitteln sollte, kann man unter anderem in einem Kapitel über das CFS aus dem Lehrbuch Harrisons Innere Medizin nachlesen, das auch über unsere Homepage abrufbar ist.

Medscape: Was sind denn die häufigsten Fehl- und mögliche Differentialdiagnosen der Erkrankung?

Prof. Scheibenbogen: Neben Burnout-Syndrom und Depression können eine Reihe anderer Krankheiten, etwa Endokrinopathien, Herzinsuffizienz, chronische Infektionen, Krebs oder neurologische Erkrankungen zu Fatigue führen und sind in Betracht zu ziehen. Sie sollten durch gründliche Untersuchung des Patienten ausgeschlossen werden. 

Anders als beim Burnout oder der Depression entwickeln sich die Symptome des CFS meist nicht schleichend, sondern ganz unvermittelt, meistens nach einer Infektion. Charakteristisch ist zudem die Zunahme aller Symptome nach Überanstrengung. Diese Verschlechterung hält dann oft tage-, manchmal wochenlang an. Man kann sich das vorstellen wie bei einem Laptop: Wenn dessen Akku vollständig geleert wurde und man ihn dann wieder an die Steckdose anschließt, dauert es meist trotzdem noch eine ganze Weile, bis er seine Arbeit wieder aufnehmen kann. Solche Symptome kennen wir von den anderen genannten Krankheiten nicht. 

Um eine neurologische Erkrankung sicher auszuschließen, kann eine Kernspintomografie des Gehirns sinnvoll sein. Schwieriger zu diagnostizieren ist die Krankheit übrigens bei Menschen, die zuvor bereits an einer Depression oder einem Burnout gelitten haben.

Medscape: Was weiß man über die Auslöser und mögliche Ursachen der Erkrankung?

Prof. Scheibenbogen: Bei rund 2 Drittel aller Patienten treten die Symptome erstmals kurze Zeit nach einem Infekt auf – häufig in einer Phase, die mit Stress verbunden ist. In etwa einem Drittel manifestiert sich das CFS infolge eines besonders belastenden Ereignisses, etwa nach einem schweren Autounfall, aber auch mal ganz ohne merklichen Anlass.

Die genauen Ursachen sind bis heute nicht zweifelsfrei geklärt und auch nicht bei allen Patienten gleich. Bei einem Teil handelt es sich ganz offensichtlich um eine Autoimmunerkrankung, die sich gegen das Immun- und Nervensystem richtet – wodurch es unter anderem zu einer Fehlsteuerung des autonomen Nervensystems kommt. Diese Patienten bilden beispielsweise Auto-Antikörper gegen bestimmte Stressrezeptoren, wodurch die Feinregulation des sympathischen und parasympathischen Nervensystems gestört ist. Auch bei anderen Patienten sehen wir ein verändertes Immunsystem: Oft findet sich ein Mangel an Immunglobulinen und viele Patienten leiden an häufigen und schwer verlaufenden Infektionen.

Neue Untersuchungen zeigen zudem, dass CFS-Erkrankte häufig einen gestörten Energiestoffwechsel haben, der in vielerlei Hinsicht dem Stoffwechsel von Tieren im Winterschlaf ähnelt. Bei der Bezeichnung CFS/ME handelt es sich also eigentlich eher um eine Sammeldiagnose.

Medscape: Ist denn dann die Bezeichnung Myalgische Enzephalomyelitis, die ja auf eine Entzündung des Gehirns und Rückenmarks hindeutet, die mit Muskelschmerzen einhergeht, wirklich gut gewählt?

Prof. Scheibenbogen: Eigentlich nicht, denn eine Entzündung des Gehirns und des Rückenmarks im klassischen Sinne liegt ja nicht vor. So ist eine Liquoruntersuchung in aller Regel unauffällig. Auch Kernspinuntersuchungen des Gehirns liefern keine Anzeichen für eine Entzündung. Die Bezeichnung Chronisches Fatigue Syndrom gefällt mir allerdings auch nicht besser, da sie meiner Ansicht nach die Schwere der Krankheit verharmlost.

Medscape: Welche Therapieoptionen stehen zur Verfügung?

Prof. Scheibenbogen: Es gibt bislang leider keine zugelassene Therapie gegen die Erkrankung. Das heißt, wir Ärzte müssen vorwiegend symptomorientiert arbeiten und eine Therapie der kleinen Schritte anbieten. Das heißt, wir behandeln zunächst die besonders belastenden Symptome wie Schmerzen und Schlafstörungen. Viele Patienten entwickeln auch Mangelzustände, insbesondere an Vitamin B1, B6, B12, Vitamin D, Eisen und Zink. Auch diese gilt es zu beheben.

Manchen Patienten helfen zudem Nahrungsergänzungsmittel wie NADH, Coenzym Q10 oder Ribose, die das Energiedefizit zumindest ein Stück weit ausgleichen. Etwaige Allergien sollten nach Möglichkeit behandelt werden, um das Immunsystem nicht unnötig zu strapazieren. Rund ein Viertel aller CFS-Patienten leiden an einem Mangel an Immunglobulinen, die man gegebenenfalls ersetzen sollte, um ständig wiederkehrende Infekte besser in den Griff zu bekommen.

Medscape: Sind Medikamente, die nicht nur die Symptome der Krankheit behandeln, in der Pipeline?

Prof. Scheibenbogen: Ja, in Norwegen laufen zurzeit klinische Studien mit dem Wirkstoff Rituximab, der sich gegen die B-Lymphozyten richtet. Bislang kommt der Antikörper ja vor allem bei malignen Lymphomen und Blutkrebs zum Einsatz. Auch bei einigen Autoimmunerkrankungen ist er wirksam und zur Behandlung zugelassen. Mehr als die Hälfte der CFS-Patienten sprechen auf eine Behandlung mit Rituximab gut an. Es kommt zu einer deutlichen Besserung aller Symptome, welche dann meist auch nach Absetzen des Medikaments weiter anhält. Unsere große Hoffnung ist es, dass die norwegischen Studien in 1 bis 2 Jahren zu einer europäischen Zulassung führen und wir den Antikörper dann auch in Deutschland bei einem CFS verordnen können. Darüber hinaus führen wir an der Charité derzeit Behandlungsstudien mit hochdosierten Immunglobulinen durch.

Medscape: Wie ist es um die Versorgungsstrukturen für die Patienten bestellt? Gibt es spezialisierte Zentren, an die man die Patienten verweisen kann?

Prof. Scheibenbogen: Nein, die existieren bislang leider nicht.Die Patienten werden in der Regel von den Hausärzten betreut. Es gibt für die Erkrankung auch keine Fachgesellschaft oder Leitlinien. Allerdings haben wir im vergangenen Jahr ein europäisches Netzwerk gegründet: EUROMENE, das European ME Network. Dort entwickeln wir gerade Leitlinien für die Diagnostik und Therapie, die wir hoffentlich in spätestens 2 Jahren veröffentlichen werden.

Medscape: Was können die Patienten selbst tun, um trotz ihrer Krankheit ein relativ normales Leben zu führen?

Prof. Scheibenbogen: Zunächst einmal ist es wichtig, dass sie ihre Krankheit verstehen und insbesondere lernen, sowohl körperliche als auch psychische Anstrengungen zu vermeiden, damit es nicht zu der genannten Verschlechterung der Symptome kommt. Das heißt allerdings nicht, dass die Patienten nur noch im Bett liegen sollen. Sondern sie sollen herausfinden, wie viel Aktivität noch möglich ist, und in diesem Rahmen aktiv bleiben. Gut ist es zudem, wenn sie Techniken zur Stressreduktion erlernen, etwa autogenes Training.

Für manche Patienten ist es darüber hinaus sinnvoll, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Viele fallen ja erst einmal in ein tiefes Loch, wenn sie plötzlich so krank werden, dass sie nicht mehr arbeiten können. In solch schweren Fällen ist es zudem wichtig, dass die Patienten einen anerkannten Behinderungsgrad erhalten.

Medscape: Wie ist die Prognose der Erkrankung?

Prof. Scheibenbogen: In den meisten Fällen handelt es sich leider um eine chronische Erkrankung. Es gibt aber auch Patienten, die wieder genesen. Dazu ist das Vermeiden von Überlastungen ebenso wie die symptomorientierte Therapie in jedem Fall hilfreich. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich auf diese Weise etwa jeder dritte Patient langsam wieder erholt.

Medscape: Mit welchen Vorurteilen haben die Patienten zu kämpfen? Und wie lässt sich dagegen angehen?

Prof. Scheibenbogen: Das größte Problem besteht darin, dass die Patienten in aller Regel als deutlich weniger krank anerkannt werden, als sie tatsächlich sind. Häufig müssen sich die Patienten Sätze anhören wie: „Ja, das kenne ich. Ich fühle mich auch oft so müde und ausgelaugt!“ Vielfach sehen die Patienten auch gar nicht so krank aus – was dazu führt, dass selbst Ärzte und Gutachter die Schwere ihrer Erkrankung unterschätzen und die Patienten dann z.B. Schwierigkeiten haben, ihre Erwerbsunfähigkeitsrente zu bekommen.

Glücklicherweise gibt es sowohl eine Selbsthilfegruppe als auch 2 Stiftungen, die sich des Problems angenommen haben und versuchen, die Krankheit in der Öffentlichkeit besser bekannt zu machen. Zudem sammeln sie Spenden, um die weitere Erforschung des CFS zu unterstützen. Was wir Ärzte jetzt vor allem brauchen, ist ein guter diagnostischer Marker sowie weitere Therapiestudien, damit wir bald mehr Patienten als bisher heilen können – und die Erkrankung dann hoffentlich viel von ihrem derzeitigen Schrecken verliert.