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Dienstag, 03 August 2021 10:00

Leben mit schwerer und sehr schwerer ME/CFS

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ME/CFS wird in vier Schweregrade unterteilt: mild, moderat, schwer und sehr schwer. Selbst mild Betroffene haben schon mindestens 50% ihrer Funktionalität verloren. Kaum vorstellbar, wie dann das Leben eines schwer oder sehr schwer betroffenen Menschen aussehen muss. Wir sind in das Leben dieser Menschen eingetaucht. Wir wurden konfrontiert mit verheerenden, unvorstellbaren Zuständen – und das im Jahre 2021 in Deutschland.

Dieses Projekt und der Kontakt mit den Menschen und ihrem unsäglichen Leid hat uns alle verändert, obwohl wir selbst betroffen sind, obwohl wir schon lange damit zu tun haben- wir sind nach dieser Aktion nicht mehr die gleichen.

Wir danken euch dafür, dass ihr uns Einblick in euer Leben und das eurer Angehörigen gegeben habt. Dieser Beitrag geht an alle schwer und sehr schwer betroffenen ME-CFS Patienten. Wir kämpfen für euch und geben euch eine Stimme, da ihr es selbst nicht mehr könnt.

Triggerwarnung.

Triggerwarnung. In diesem Beitrag geht es um Trigger, also Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Der Beitrag enthält Inhalte, die verstörend wirken können. Unter anderem thematisiert der Beitrag den Tod und körperliche Gewalt. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.  

  • „Ich kann nicht gewaschen werden, ich kann meinen Kopf nicht heben, ich kann niemanden bei mir haben, ich kann nicht aus dem Bett gehoben werden, kann nicht aus dem Fenster schauen, kann nicht berührt werden, kann weder fernsehen noch Musik hören – die Liste ist lang. ME hat meinen Körper zu einem quälenden Gefängnis gemacht.
    Emily Rose Collingridge (1981-2012)“   
  • „Glauben Sie mir, sterben ist nicht das schlimmste, was mir passieren kann.
    Aussage einer Betroffenen“  

Wo liegt die Grenze zwischen einem mittelschweren und einem schweren ME/CFS-Fall? Wie kann es sein, dass oft junge Menschen, die gerade erst ihr Leben begonnen haben, zu einem Pflegefall werden?

Beim Ausbrechen der Krankheit müssen viele feststellen, dass zunächst die Ärzte und dann Versicherungen und Behörden überhaupt nichts mit der Krankheit anfangen können. Praktisch jeder ME/CFS-Kranke ist sicher durch das tiefe Tal von Diagnosen wie Burnout, Depression, Nierenschwäche oder Kreislaufschwäche gegangen, mit ständigen Empfehlungen zur schrittweisen Aktivierung und Sportprogrammen.

Oft werden Patienten dann auch psychotherapeutisch behandelt und stellen sich, unwissentlich, zur Rehabilitation zur Verfügung. Doch Betroffene, die bis zur Reha einen milden oder moderaten Verlauf hatten, kommen so meist nicht wieder nach Hause. Verordnungen für einen Toilettenstuhl, elektrischem Rollstuhl und Badewannensitz stehen dann an der Tagesordnung.

Gerade am Anfang sind die 1000 Untersuchungen für einen ME/CFS-geschwächten Menschen nicht zu stemmen. Man fühlt sich damit allein gelassen und hoffnungslos überfordert. Auch haben viele nicht das Geld, um zu allen relevanten Ärzten und Therapeuten mit dem Taxi zu fahren, geschweige denn dafür, die Therapien, die meist privat angeboten werden, zu bezahlen. Der 3. Faktor sind die unglaublich langen Wartezeiten von bis zu einem Jahr, die jede Art von möglicher Verbesserung nach Erkennung einer Co-Morbidität ewig in die Länge zieht und dann muss man sich noch trauen, z.B. die angebotenen Medikamente auch einzunehmen.

Schwer an ME/CFS erkrankte Menschen haben täglich mit Dingen zu kämpfen, die für gesunde Menschen kaum vorstellbar sind. Sie leben mit dem Wissen, egal wie schlecht es ihnen geht, sie sind allein und bekommen keine Hilfe.

Sie vegetieren seit Jahren, manchmal Jahrzehnten, meist völlig allein gelassen mit allem, was eine schwere Erkrankung ausmacht. Sie sind ohne angemessene Pflege, hausärztliche Versorgung, psychosoziale Betreuung.

Betroffene befinden sich jeden einzelnen Tag in einem Dilemma. Sie sind quasi zu krank für jede einzelne Tätigkeit. Sie müssen ständig zwischen Pest und Cholera entscheiden, immer abwägen und das kleinere Übel wählen.

Sie leben in absoluter Isolation, absoluten Schmerz, absoluter Todesangst. Sie sind all dem völlig allein ausgesetzt. Sie bekommen oft nicht das Mindestmaß an menschenwürdiger Hygiene und Ernährung.

Sie sind tagelang wach und wenn sie schlafen, ist es ein leichtes Dösen, immer nur für ein paar Minuten. Viele können nur in einer bestimmten Position verharren und sich überhaupt nicht bewegen. Meistens sind sie zu schwach, um die Augen zu öffnen, sich zu bewegen oder zu sprechen. Selbst Atmen ist eine kaum aushaltbare Anstrengung.

Viele von ihnen haben keine Angehörigen, die ihnen glauben. Einige sind bei ihren Angehörigen gefangen und werden misshandelt und vernachlässigt. Nur wenige werden mit Liebe und Verständnis behandelt. Nur wenige haben Angehörige, die um medizinische Versorgung kämpfen.

Diejenigen, die das Pech hatten, in einem Pflegeheim zu landen, müssen unerträgliche Misshandlungen und Vernachlässigung ertragen. Sie können sich an niemanden wenden, da ihn keiner glaubt.

Sie sind zu krank, um in die Notaufnahme oder in eine Klinik transportiert zu werden. Schon allein dies führt zum Crash. Es müssen Möglichkeiten für einen krankheits-gerechten Krankentransport geschaffen werden. Zusätzlich müsste eine bessere Betreuung durch Krankenhäuser im Notfall gewährleistet werden (Krankenhäuser machen die normalen Routine-Untersuchungen, finden nichts und entlassen dann wieder). Eine Versorgung durch Hausbesuche sollte Standard sein.

Wir brauchen ein Behandlungszentrum für Menschen mit ME/CFS. In diesem Zentrum arbeiten ME/CFS-relevante Ärzte und Therapeuten zusammen. Alle Ausschlussdiagnosen und Co-Morbiditäten werden in diesem Zentrum durch die einzelnen Fachbereiche diagnostiziert und behandelt. Durch wöchentliche, fachübergreifende Konferenzen wird sich über den einzelnen Patienten beraten und die bestmögliche Hilfe für ihn ausgearbeitet. Wunderbar wäre eine angeschlossene Klinik, in welcher der Patient anfänglich und in schweren Krisenzeiten aufgefangen werden kann. Doch all das ist bisher nur ein Traum.

Viele habe regelrecht Panik vor ärztlicher Betreuung oder einer stationären Aufnahme ins Krankenhaus, obwohl dies ja oft genau der angemessene Schritt wäre, um das Leiden zu lindern, eine adäquate Versorgung zu gewährleisten und auch, um weitere notwendige Schritte einzuleiten. 

Patienten, die schwer erkrankt sind, werden am Schluss vom Palliativnetz betreut und bekommen so Hilfe. Da ME/CFS Patienten keine „Todeskandidaten“ sind, habe sie keine Chance. Im Palliativnetz sind Ärzte aus allen Fachrichtungen, die unkonventionell Medikamente geben, um z.B. Schmerzen zu lindern. So etwas wird auch bei ME/CFS benötigt! Ärzte, die erkennen, wie schwer die Patienten wirklich erkrankt sind und die weiterhelfen wollen.

Einige Betroffene haben seit Jahren

  • Kein Wort gesprochen
  • Kein Schluck Wasser getrunken
  • Keine Umarmung gehabt
  • Keinen Menschen angesehen
  • Keinen Kontakt zur Außenwelt
  • Keine Musik gehört oder Filme geschaut
  • Nicht gelesen
  • Nicht aus dem Fenster geschaut
  • Keine Sonne, Regen oder Wind auf der Haut gespürt
  • Nicht am Leben der Freunde teilhaben können.

Sie sind oft zu schwach, um sich überhaupt schöne Sachen in Gedanken vorzustellen, weil ihr Gehirn zu überlastet ist.

Gifs und Animationen (besonders in Instagram Storys) führen zu kompletter Reizüberflutung. Videos können nicht geschaut werden, da sie wackelig sind, schnelle Bildwechsel und schnelle Schwenks beinhalten. Musik und Geräusche sind nicht zu ertragen.

Helle Bilder, Texte auf Bilde, zu kleine und zu dünne Schrift, niedrige Kontraste, zu viel Text und fehlende Absätze können vom Gehirn nicht verarbeitet werden.

Je kranker man ist, desto mehr Ablenkung bräuchte man, aber desto weniger Ablenkung ist möglich.

Sie liegen immer im gleichen Raum, in Dunkelheit. Nutzen Ohrstöpsel, um Geräusche aus der Nachbarschaft – Motorgeräusche, spielende Kinder, fröhliche Menschen – von sich fernzuhalten.

Die Lebensumstände, einschließlich Hygiene sind nicht vorstellbar. Einige hausen seit Jahren in einem einzigen, völlig abgedunkelten Raum, mit Nähe zur Toilette. Sie scheren sich ihren Kopf kahl, sind bis auf die Knochen abgemagert, leben im Bad, schaffen es oft tagelang nicht, zu trinken, zu essen, zur Toilette zu gehen, liegen wund.

Doch auch die Angehörigen leiden mit. Wem kann man von seinem Leid erzählen? Betroffene wollen nicht alle traurig machen und noch mehr belasten Man versucht immer so zu tun, als ginge es einem besser, als es tatsächlich ist. Dadurch wird man dann aber nicht richtig verstanden.

Pflegedienste kennen die Erkrankung nicht und müssen erst informiert werden. Doch selbst das ist zu anstrengend. Daher müssen Familienangehörige oft alles allein machen.

Die Unterstützung der Kasse für die Pflege durch einen Angehörigen bei Pflegestufe III ist mit knapp über 500 Euro eine Hilfe für die Familie in dieser schweren Zeit, aber eine externe Pflegekraft würde für diese Summe maximal 5 % dieser Pflegearbeit übernehmen können, wenn man Haushaltsführung, Fahrdienste und physische Pflege zusammenrechnet. Natürlich leidet der Haushalt unter der Doppelbelastung, wenn aus zwei Vollzeitkräften plötzlich nur noch ein Alleinverdiener wird.

An Intimität ist überhaupt nicht mehr zu denken. Betroffene können nicht kuscheln wie früher, da alles anstrengend und Berührungen oft schmerzhaft sind. Sie verlieren ihre Privatsphäre, da sie bei allem Hilfe brauchen.

Sie müssen gebadet werden, die Nägel müssen geschnitten werden. Betroffene können sich selbst nicht mehr rasieren. Man könnte denken, ist doch alles kein Ding. Aber es sind intime Sachen, die man sonst selbst macht und jeder will sich dem Partner ja auch gepflegt zeigen. Doch das geht nicht mehr. Und für jede weitere Arbeit, die man einfordern muss, hat man ein schlechtes Gewissen.

Pflege eines schwer an ME/CFS Erkrankten bedeutet rund um die Uhr für ihn da zu sein. Auch nachts. Das ist auch für die Gesundheit der Angehörigen schlecht.

Vielen Patienten wird der Pflegegrad nicht anerkannt. Dieser ist auf Erkrankungen wie ME/CFS nicht angepasst, viele Fragen beziehen sich auf z.B. Demenzerkrankungen oder ältere Leute, die sich nicht mehr verständigen können.

Auch Nahrungsergänzungsmittel müssen selbst finanziert werden: Alle anderen Erkrankten bekommen Medikamente von der Krankenkasse bezahlt, das sollte auch bei ME/CFS der Fall sein. Viele sind auf spezielle Nahrung angewiesen (aufgrund von Unverträglichkeiten oder auf Trinknahrung angewiesen): auch das sollte finanziell unterstützt werden.

Die Nutzung von Behindertenparkplätzen etwa nur Menschen mit Amputationen zu ermöglichen, aber nicht ME/CFS-Patienten, die ebenfalls auf den Rollstuhl angewiesen sind, obwohl sie zwei Beine haben, ist nicht nachvollziehbar.

Die Versorgungsnöte stehen an wichtigster Stelle, weil sie für viele existenziell sind. Und es ist wichtig sie laut und deutlich zu kommunizieren.

Dennoch ist die Isolation das, was es für die schwer und sehr schwer Betroffenen jeden Tag unerträglicher macht. Die räumliche Isolation, die sozial- menschliche, eine „Erfahrungsisolation“, der Zwang, nicht aktiv sein zu dürfen. Was macht das mit einem? Was macht das über Jahre gesehen? Kann man dabei psychisch gesund bleiben? Wie damit umgehen? Was kann hilfreich sein? Welche Hilfsangebote kann es geben?

Wir bleiben mit mehr Fragen als Antworten zurück.

Was den Betroffenen bleibt? Die Hoffnung. Die Hoffnung auf die Wissenschaft, auf Ärzte und eine Therapie. Die Hoffnung auf Anerkennung. Die Hoffnung ist ein großer Tröster.

Doch wir werden weiter kämpfen. Für Anerkennung, Aufklärung und Forschung für dieser schweren multisystemischen Erkrankung.

Wollt ihr mehr über das Leben von schwer und sehr schwer Betroffenen erfahren? Schaut doch auch mal hier vorbei:

https://horizontalesleben.blogspot.com/

Eine schwer erkrankte Betroffene hat uns auch folgenden Artikel zur Verfügung gestellt.

Zum Download des Artikels hier klicken

 

Ein großes Dankeschön an Carolin Berger und Familie, Mia Neu, Nelly Winkt und alle anderen!

Gelesen 3846 mal Letzte Änderung am Donnerstag, 09 Dezember 2021 17:30
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