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Mittwoch, 11 August 2021 10:55

Aus dem Leben einer sehr schwer betroffenen ME/CFS Patientin

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Triggerwarnung

 

Triggerwarnung: In diesem Beitrag geht es um Trigger, also Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Der Beitrag enthält Inhalte und Bilder, die verstörend wirken können. Unter anderem thematisiert der Beitrag den Tod und körperliche Gewalt. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.

 

Ich lebe seit fast 1,5 Jahren im Badezimmer. Dies ist der leiseste Raum in meiner Wohnung, mit weniger Erschütterungen durch die Nachbarn.

Ich habe lediglich einen Schritt zur Toilette und Zugang zu fließend Wasser. Heißes Wasser aus dem Hahn des Bades nutze ich für meine Wärmflasche.

Menschen, wie ich sind zu krank für einen Klinikaufenthalt oder einen Termin in einer Arztpraxis. Denn diese sind für mich:

  • Zu hell
  • Zu laut

Ich bin dadurch zu vielen Reizen ausgesetzt:

  • Zu viele Erschütterungen
  • Zu viele Gerüche
  • Zu viele sprechende Personen
  • Zu viel Körperkontakt

Mein ganzer Körper fühlt sich an wie unter Elektroschocks - es fühlt sich an, als würde man sterben. Was viele nicht wissen: man kann auch daran sterben.

Der Zustand bleibt dauerhaft (auch Monate später) unwiderruflich verschlechtert.

Mit meiner Erkrankung wird man in Klinken nicht ernst genommen. Psychische und körperliche Gewalt ist üblich. Man wird angebrüllt, wenn man nicht sprechen kann.

Man wird als Simulant, psychisch krank und Hypochonder bezeichnet. Man wird gewaltsam aufgesetzt, obwohl man den Kopf nicht halten kann. Dann wird an den Haaren gezogen. Man wird gewaltsam auf eine Liege oder Bett geworfen.

Eine Bettpfanne und Spucktüte wird verweigert. Man muss in seinem eigenen Kot und Erbrochenen stundenlang liegen.

Die Klingel wird so weit entfernt, damit man sie nicht erreichen kann.

Es wird vorgeworfen, dass man sich weigert an Therapien und Untersuchungen teilzunehmen, da man paralysiert ist.

Das Zimmer wird unter keinen Umständen abgedunkelt. Türen werden geknallt. Essen wird verweigert, wenn man nicht aufstehen und es selbst holen kann. Essen wird nicht in mundgerechte Stücke geschnitten.

ME wird als psychosomatisch abgetan. Es wird mit Zwangseinweisung in die Psychiatrie gedroht und auch im Befund empfohlen.

Schmerzmittel werden verweigert und Hausbesuche werden abgelehnt (über 1000 Ärzte telefonisch, 139 Ärzte, die ich persönlich sah). Rezepte werden nicht mehr ausgestellt, da ich die Wohnung nicht verlassen kann

  • "Sie sind zu jung, um krank zu sein."
  • "ME ist keine Krankheit."
  • "Machen Sie Sport und nehmen Sie Nahrungsergänzungsmittel, dann werden Sie schnell wieder gesund."
  • "Das ist alles psychosomatisch."

sind nur einige der Aussagen, die ich regelmäßig zu hören bekomme.

Mir wurden

  • Pflegebett
  • Antidekubitusmatratze
  • Stützkissen
  • Rollstuhl
  • Halskrause
  • Katheter

und viele andere Sachen verweigert, obwohl ich sie brauche.

Ich bekam nur Pflegegrad 3. Beim GdB wurde ME nicht anerkannt. Ich bekam stattdessen 60 auf Psychosomatik ohne Merkzeichen. Dabei brauch ich H, B, G, und aG.

Es wurden viele falsche Angaben über mich gemacht. Ich könne jederzeit Treppen laufen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, an Veranstaltungen teilnehmen.

In der Öffentlichkeit bin ich vollkommen überreizt. Selbst Bäume verursachen eine Reizüberflutung. Ich kann nur während eines Adrenalinrauschs kommunizieren. Das verstehen keine Ärzte und keine Pfleger.

Ich hatte zwei verschiedene Pflegedienste mit vielen Pflegern und dann auch eine private Pflegerin. Keiner nahm mich ernst. Keiner hielt sich an das Infomaterial zur Pflege von ME-Erkrankten. Alle hielten mich für einen Lügner, der maßlos übertreibt.

Sie haben mir mit Absicht das Leben noch schwerer gemacht. Trotz Corona keine Maske getragen oder Hände gewaschen. Türen geknallt. Laut telefoniert.

Ich wusste nie, wann die Pfleger kommen, da sie sich nicht an abgemachte Zeiten hielten. Oft kamen sie bis zu fünf Stunden zu spät oder kamen gar nicht.

Ich war während der Zeit immer total ängstlich, da ich mich auf Reize immer vorbereiten muss, selbst wenn sie nur in der Wohnung sind und nicht in meinem Zimmer.

Es gibt keinen Pflegedienst, der in der Lage ist, jemanden mit ME in meinem Stadium zu pflegen. Selbst von der Charité erhielt ich keine Hilfe, sondern die Empfehlung auf:

  • Yoga
  • Spazieren
  • Leichtes Training
  • Physiotherapie
  • Geregelter Tagesablauf
  • Nicht im Bett bleiben
  • Geregelte Schlafzeiten
  • Psychotherapie
  • Antidepressiva
  • Paracetamol / Ibuprofen

Ich bekam keinerlei medizinische Versorgung seit Ende 2020.

116117 weigern sich zu helfen. Stellen mich als Lügner hin und dass sie nicht zuständig seien. Sämtliche Krankenkassen, inklusive meiner (AOK Baden-Württemberg), weigern sich zu helfen.

Ich selbst habe über 1000 Ärzte kontaktiert. Im Laufe der Jahre war ich bei über 139 Ärzten. Keiner nahm mich ernst. Meine Freunde hatten genau so wenig Erfolg.

Eine Freundin nahm meinen Diagnoseordner und lief persönlich Arztpraxen ab, doch sie erhielt überall nur Ablehnung. Sie erlitt einen Nervenzusammenbruch.

Eine Pflegeschwester erlitt ebenfalls einen Nervenzusammenbruch wegen der Ignoranz und Misshandlungen meiner Ärzte.

Ich möchte medizinischer Cannabis probieren. Und obwohl meine ehemalige Schmerzärztin das an andere Patienten verschreibt und anderen Patienten auch Video/Telefonie anbietet, wurde es mir verweigert.

Mir wurde ständig gedroht, meine Medikamente entzogen zu bekommen, wenn ich nicht sämtliche Untersuchungen mache und ich nicht in eine Klink gehe und alle paar Wochen persönlich erscheine. Ich wurde dann damit getäuscht, dass ich in einer Klinik medizinischen Cannabis bekommen würde. Stattdessen wurde ich misshandelt und mir wurde CBD Missbrauch unterstellt.

Von Orthopäden, Rheumatologen, Allgemeinärzten wurde ich nie ernst genommen; erhielt nichts, was mir in irgendeiner Weise helfen könnte; auch nicht, als ich selbst Vorschläge machte. Ich wurde von allen, inklusive Gutachter vom MDK und Rentenkasse als Lügner abgetan.

Ich habe jeden um Hilfe gebeten.

  • jede Selbsthilfegruppe, in der ich bin
  • alle Freunde - ob real oder online
  • sämtliche Politiker
  • unzählige Ärzte
  • sogar den Krisendienst
  • selbstverständlich auch meine Pfleger

Es gibt keine Hilfe.

Ich erwarte keine Heilung. Ich will nur die Medikamente und Hilfsmittel, bei denen ich weiß, dass sie meine Symptome lindern und das Überleben ermöglichen. Ich bekomme keine palliative Versorgung, da ME nicht als lebensbedrohlich anerkannt wird und mich auch kein Arzt dabei unterstützt. Ich bin nicht depressiv und war es auch nie. Ich werde praktisch zum Suizid gezwungen. Doch ich habe Angst vor dem Tod. Es ist grausam, denn ich will nicht sterben. Ich erlebe, dass so viele sterben. Ich will leben.

  • Ich kann nicht umarmt werden.
  • Ich kann keine Telefonate führen.
  • Ich kann keine Filme sehen.
  • Ich kann nicht raus in die Natur.
  • Ich kann meinen Geburtstag nicht feiern, kein Weihnachten.
  • Ich kann keine Musik hören oder mich an Kunst erfreuen.
  • Ich kann keinen Hobbys nachgehen.

Ich liege durchschnittlich 23 Stunden und 45 Minuten in vollkommener Dunkelheit, Stille und Isolation.

Ich kann nicht mal jeden Tag essen, denn selbst essen strengt mich unglaublich an. Ich kann nur alle 2-3 Wochen von Pflegern gewaschen werden.

Es ist traurig, wenn man so krank ist, dass man Menschen mit Krebs oder anderen Krankheiten/Behinderungen beneidet, da sie eine bessere Versorgung haben, Anerkennung, ernst genommen werden und mehr Lebensqualität haben

Es ist durch mindestens 2 Studien bewiesen, dass man mit ME von allen Krankheiten die niedrigste Lebensqualität hat. Ich kann jeder Zeit sterben. Aber selbst nach meinem Tod wird ME nicht als Ursache anerkannt! Man lebt in absoluter Angst, zwangseingewiesen zu werden und zu Tode gefoltert zu werden.

Manche fühlen sich als ob sie bei lebendigem Leib verbrannt werden. Andere frieren egal wie warm es ist. Beides lässt sich so gut wie gar nicht lindern und bei beiden ist man meist vollkommen nass geschwitzt.

Die Blase fühlt sich an, als ob man platzt, sie sticht und es kommt kaum bis kein Urin - und das, obwohl keine Entzündung gefunden wurde. Stuhlgang führt oft zu Ohnmacht oder ist gar nicht mehr möglich.

Die kognitiven Einschränkungen fühlen sich wie Demenz an. Ich vergesse meinen Namen, den Namen anderer, meine Adresse und Alter. Ich verliere die Orientierung. Ich kann mitten im Satz vergessen, was ich sage. Wenn ich einen Gegenstand benötige, muss ich während der Suche entsprechende Handbewegung machen, da ich sonst vergesse, was ich suche.

Ich kann mir keine Gesichter merken oder erkennen. Wenn ich etwas sage oder mir etwas gesagt wird, kann es passieren, dass ich alles sofort wieder vergesse. Ich habe kein Zeitgefühl. Vergangene Jahre fühlen sich wie Tage oder Wochen an. Wenn ich mein Smartphone nicht hätte, wüsste ich nicht mal, welches Jahr, Datum oder Zeit wir haben. Ich werde für sehr dumm gehalten.

Ich bin den größten Teil des Tages paralysiert. Die restliche Zeit wälzen ich mich in unerträglichen Schmerzen.

Jede Anwesenheit und Pflegemaßnahme führen zur Reizüberflutung, Schmerzen und Crash.

Ich habe guten Appetit, mir ist aber immer übel. Wenn ich mal schaffe zu essen, muss ich mich konzentrieren, nicht zu brechen und muss aufhören zu essen, sobald ich würge, damit ich das Essen nicht verliere. Mir wurde unzählige Male eine Essstörung unterstellt - Magersucht und Bulimie. Ich habe keine Essstörung. Mir wurde sehr oft mit Zwangsernährung gedroht.

Viele können gar nicht mehr essen oder nur eine kleine Auswahl an Lebensmitteln zu sich nehmen, oft sehen sie aus wie Skelette. Wir wollen essen, wir haben keine Angst vor Kalorien. Es ist keine Essstörung, sondern sehr schwere ME.

Die Bezeichnung "Chronisches Fatigue Syndrom" oder Begriffe wie Erschöpfung und Müdigkeit sind für uns ein Schlag ins Gesicht. In den Medien werden wir fast immer verschwiegen. In Reportagen über ME sieht man fast immer Jemanden beim Spazieren gehen, auf der Couch liegen oder beim Haushalt machen.

Nie werden die Verstorbenen erwähnt. Ich muss jeden Tag Angst haben, dass meine ME Freunde sterben. Dabei weiß ich nicht mal, ob es vielleicht besser wäre, wenn sie sterben, damit sie endlich frei von ihren Qualen sind. Keiner will sterben. Aber alle wollen, dass die Qualen aufhören.

Anstatt zu helfen, wird uns von anderen nur mehr Leid zugefügt und wir sind zu schwach, um uns zu wehren.

Immer wieder fühlt es sich an, als würde ich sterben und dann sterbe ich doch nicht. Und die Folter geht weiter.

Ohne Hilfe
Ohne Anerkennung
Ohne Medikamente

Und ich weiß nie, wann ich doch sterbe - denn irgendwann wird es das letzte Mal sein und ich bin tot.

Es gibt keine Krankheit, die mit ME vergleichbar ist. Es ist wie eine Kombination aus allen Krankheiten. Nur schlimmer.

Gelesen 15000 mal Letzte Änderung am Donnerstag, 09 Dezember 2021 17:30

1 Kommentar

  • Kommentar-Link Johanna Borde Sonntag, 10 September 2023 13:02 gepostet von Johanna Borde

    Liebe Saskia,
    ich hoffe es Dir so gut wie nur irgend irgend möglich.
    Es tut mir leid Dich damit zu belästigen und wenn es Dir zu viel ist, hör bitte gleich hier auf zu lesen!

    Not Recovered (internationaler Ableger von Nicht Genesen) werden 3-4 Plakatwände in Berlin buchen um über LC und ME/CFS aufzuklären. Das entworfene Paket war, ehrlich gesagt nicht sooo zielführend wenn auch natürlich total gut gemeint.
    Eigentlich hatte ich bisher ich nichts weiter zu tun mit Not Recovered, außer natürlich gemeinsame Ziele, aber da musste ich mich dann einfach einklinken. So hab ich letzte Woche mehrere Ideen zu einer Plakatkampagne entwickelt. Mittlerweile steht fest welche es werden wird. Füreiner der beiden Motive würde ich gerne Dein Foto mit der Nackenstütze verwenden (Das in der Mitte Deiner Collage). Die Idee ist, möglichst in der Nähe des Springerpressebüros zu plakatieren.
    Mit den Plakaten wollen wir die Journalisten direkt ansprechen und auffordern zu berichten. Natürlich kommt das nur in Frage wenn Du damit einverstanden bist.
    Gerne würde ich Dir meinen Entwurf schicken wenn ich darf.

    Vielen lieben Dank für Deine (,ich weiß wie kostbare,) Aufmerksamkeit und liebe solidarische Grüße
    Johanna

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