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Freitag, 10 Dezember 2021 09:00

Vergessen

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Vergessen

„Who cares if one more light goes out
In the sky of a million stars?
Who cares when someone's time runs out
If a moment is all we are?
Who cares if one more light goes out?

Well, I do“

- Linkin Park

Inspiriert von dem Artikel „We are Failing People with Very Severe ME/CFS“ (Wir lassen Menschen mit sehr schwerem MECFS im Stich), eigenen Erfahrungen und Aussagen von #severeME Betroffenen haben wir uns Gedanken über ein Thema gemacht, welches leider auch unter Mitbetroffenen oft in Vergessenheit gerät.

Triggerwarnung
Dieser Beitrag enthält Inhalte, die verstörend wirken können. Bei manchen Menschen können dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.

An erster Stelle: Wir sind dankbar. Dankbar für jede korrekte Berichterstattung über ME/CFS. Dankbar für jeden Artikel, in dem wir wirklich ernst genommen werden. Dankbar, dass der Fokus mehr und mehr auf unsere Erkrankung gerichtet wird.

Dennoch gibt es ein Thema, welches uns Bauchschmerzen bereitet.

Aus dem Leben – aus dem Sinn? Nicht mit uns.

Schwer und sehr schwer Betroffene machen 25% der ME/CFS-Patienten aus. In den Medien werden sie fast immer verschwiegen, unter den Tisch gekehrt. In Berichten über ME/CFS (meist nur „CFS“) sieht man fast immer Menschen beim Spazieren gehen, auf der Couch liegen oder beim Haushalt machen. In Zeitungsberichten werden Bilder verwendet, die psychische Erkrankungen suggerieren. Begriffe wie Müdigkeit werden benutzt. Das ist nicht die Realität von ME/CFS und erst recht nicht von schwer und schwerst Betroffenen.

Das Thema Tod wird verharmlost oder sogar verschwiegen. ME/CFS ist keine Erkrankung, die zwingend tödlich endet. Wir alle aber wissen, es gibt zu viele Menschen, die an ME/CFS sterben. Die Erkrankung hat zu vielen Menschen das Leben gekostet. Die häufigsten sind Herzversagen, Suizid und Krebs.

„Der Mythos, dass ME niemals zum Tode führt, muss endlich begraben werden.“ – Ein Betroffener (1998)

Damit wollen wir keine Angst schüren – das Thema darf nur einfach nicht weiter verschwiegen werden.

Wir wollen aus der Erkrankung keinen Wettkampf machen, wollen nicht mit mild und moderat Betroffenen konkurrieren.Jeder von uns leidet, jeder von uns möchte gesund werden. Wiir möchten nur den schwer und schwerst Betroffenen weiterhin eine Stimme geben. Wir wollen verhindern, dass Schwerstkranke weiterhin durch die Maschen schlüpfen.

Schwer und schwerst Betroffene sind am meisten von uns auf Versorgungsmaßnahmen angewiesen. Sie kämpfen täglich um das nackte Überleben. Dabei geht es nicht darum, den Einkauf zu schaffen oder zu kochen. Es geht darum, genügend Energie aufzubringen, um sich essen zuführen zu können, um sich waschen zu können oder gewaschen zu werden. Kleinste, überlebenswichtige Maßnahmen.

Zitat aus oben genannten Bericht:

„Ich habe mich in den letzten Jahren für drei Menschen mit sehr schwerer Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) eingesetzt. Jedes Mal empfinde ich das gleiche Gefühl der Frustration, des Schreckens und der Panik über meine Unfähigkeit, die Punkte zu verbinden, die erforderlich sind, um jemanden vom Abgrund zurückzuholen.“ – Amber Ella

Was muss sich ändern?

Es gibt viele informative Quellen über ME/CFS, aber nur wenige, die sich tatsächlich auch mit schweren und sehr schweren Fällen befassen. Die meisten sind auf mild/moderate Fälle ausgelegt.

„Versetzen Sie sich in die Lage eines vielbeschäftigten (und zweifelnden) Notarztes oder Krankenhausarztes. Sie haben keine Zeit, sich mit den neuesten Forschungsergebnissen über ME/CFS zu befassen und haben wahrscheinlich negative Vorurteile über die Krankheit.“ – Amber Ella

Wir brauchen also prägnante Dokumente für niedergelassene Ärzte und Krankenhauspersonal, die keine Erfahrung in der Arbeit mit dieser Art von Patienten haben und die die besonderen medizinischen Bedingungen aufzeichnen die bei Menschen mit schwerem ME/CFS auftreten.

Schwerstkranke sind meist bettlägerig und der Besuch beim Hausarzt ein Ding der Unmöglichkeit. Nur sehr wenige haben einen ME/CFS-Spezialisten. Viele Betroffene haben sogar Schwierigkeiten, einen hilfsbereiten Hausarzt zu finden.

Viele Hausärzte wollen sich nicht mit einem hochkomplexen Patienten befassen oder wissen nicht, wie sie ihn behandeln sollen. Diese Patienten fallen schließlich durch die Maschen, erhalten keine sinnvolle medizinische Versorgung und verkommen in der Isolation weiter.

Für dieses Problem braucht es einen besonderen Typ von Hausarzt. Menschen mit schwerem ME/CFS brauchen Hausärzte, die Hausbesuche machen und die verschiedenen Spezialisten koordinieren können, die mit einem komplexen Patienten zu tun haben. Wir brauchen auch Hausärzte, die die emotionalen Erfahrungen schwer kranker Patienten verstehen und wissen, wie Isolation, Vernachlässigung, Missbrauch, Armut, Gaslighting und medizinische Traumata das Wohlbefinden beeinträchtigen.

Wie wir helfen können?

Hört schwer und schwerst Betroffenen zu. Nehmt sie und ihre Sorgen ernst. Sprecht offen mit ihnen über ihre Ängste. Seid für sie da, wenn sie euch brauchen und lasst ihnen genügend Raum, um sich zurückzuziehen. Gebt ihnen eine Stimme und kämpft gemeinsam mit uns, damit auch diese Menschen nicht in Vergessenheit geraten.

Menschen mit schwerem ME/CFS brauchen Liebe, Unterstützung und Bestätigung von den Menschen in ihrem Leben. Menschen zu ignorieren oder zu hoffen, dass das Problem verschwindet, wird sie nur noch tiefer in ihre Krankheit treiben, manchmal über den Punkt hinaus, an dem es kein Zurück mehr gibt.

Persönliche Worte zum Schluss

Für mich sind ME/CFS Betroffene die wohl stärksten Menschen überhaupt. Schwer und schwerst Betroffene berühren mich in einer Art und Weise, die man kaum beschreiben kann. Sie durchleben tagtäglich die Hölle auf Erden und sind so positive und dankbare Menschen geblieben. Sie verdienen unseren größten Respekt. Diese Menschen lassen mich durchhalten und weiterkämpfen, jeden einzelnen Tag. Bitte vergesst diese Menschen nicht und lasst sie nicht verschwinden. - Saskia

 

Wer den vollen Artikel „We are Failing People with Very Severe ME/CFS“ lesen möchte, findet die Übersetzung hier:

Wir_lassen_Menschen_mit_sehr_schwerem_MECFS_im_Stich

 

Quelle: „We are Failing People with Very Severe ME/CFS“

https://www.healthrising.org/blog/2021/07/12/we-are-failing-people-with-very-severe-me-cfs/

Gelesen 5181 mal Letzte Änderung am Freitag, 10 Dezember 2021 14:21
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