Ein sehr gut recherchierter Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 24.11.2019 mit freundlicher Genehmigung der Autorin von Fabienne Hurst hier in voller Länge veröffentlicht. GANZ HERZLICHEN DANK!

Quelle: Facebook Post und Beitrag in Textform
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Chronisches Erschöpfungssyndrom – klingt für viele nach: Da ist man halt müde. Dabei leiden die Patienten sehr. Auf der Suche nach Diagnose und Therapie durchleben viele eine wahre Odyssee. Meine Cousine zum Beispiel. Von Fabienne Hurst

Manchmal wünscht sich meine Cousine, sie hätte eine ansteckende Krankheit. Ebola zum Beispiel. Dann wären alle alarmiert. Jeder könnte mit dem Namen etwas anfangen. Und sie müsste niemandem erklären, dass sie wirklich krank ist. Sie müsste keinen Gutachter der Rentenversicherung überzeugen, keine Sachbearbeiter beim Versorgungsamt oder ihren Arbeitgeber. Auch nicht den Nachbarn, der die junge, doch so gesund aussehende Frau so oft faul auf der Gartenliege herumliegen sieht. Meine Cousine hat eine schwere Krankheit, die kaum jemand kennt. Vielleicht merkt sie sich auch einfach niemand, weil sie einen so bescheuerten Namen hat. Myalgische Enzephalomyelitis, kurz ME. Oder auch chronisches Erschöpfungssyndrom genannt, oder Chronisches Fatigue-Syndrom (CFS). Bislang ist sie unheilbar, Medikamente gibt es nicht. Dafür ist die Krankheit zu wenig erforscht.
Als 15-Jährige erkrankte meine Cousine am Pfeifferschen Drüsenfieber, einer Virus-Infektion. Sie wurde vermeintlich wieder gesund, aber irgendetwas stimmte nicht. Als wäre die Krankheit nie ganz weg. Sie schaffte das Abitur, begann zu studieren. Doch mit jedem Semester fühlte sie sich kränker. Infekte häuften sich, sie blieb immer öfter, immer länger erschöpft, ohne zu wissen, warum. Bekam Muskelschmerzen, die sich anfühlen, als wäre sie mit 40 Grad Fieber einen Marathon gelaufen. Dazu Kopfschmerzen, Herzrasen, Schlaflosigkeit, Wortfindungsstörungen, „Nebel im Kopf“. So nennt sie es, wenn das Gehirn nicht genug Energie hat zum Denken.

Schließlich musste sie ein Semester pausieren, wurde über Monate krankgeschrieben. Ärzte, aber auch Freunde und Bekannte begannen, an ihrem Verstand zu zweifeln: Bildet sie sich alles nur ein? Dabei war sie messbar krank. Ein Arzt stellte Entzündungsherde im Gehirn und Rückenmark fest. Eine Expertin an der Berliner Charité diagnostizierte schließlich – 18 Jahre später – ME. Mittlerweile hat sie einen Schwerbehindertenausweis. Doch trotzdem gibt es Menschen, die glauben, dass meine Cousine gar nicht wirklich krank ist. Viele Leute rollen mit den Augen, wenn sie Erschöpfungssyndrom hören. „Ja ja, ich bin auch manchmal müde“, hört sie dann.

Der britische Comedian Ricky Gervais hat die Krankheit mal in einem seiner Sketche erwähnt. „ME? Das ist doch das, was die Leute haben, wenn sie nicht zur Arbeit gehen wollen.“ Auch Ärzte belächeln die Betroffenen oft. Wie kann es sein, dass es im Jahr 2019 eine rätselhafte Krankheit gibt, die manche Ärzte diagnostizieren, andere aber für erfunden halten? Und das, obwohl es Betroffenen nachweislich schlechtgeht? Vielleicht bin ich als Journalistin in diesem Fall nicht unparteiisch genug, um das zu recherchieren. Ich bin quasi familiär vorbelastet. Vielleicht hilft mir auch genau das. Denn ich kenne meine Cousine. Ich weiß, dass sie ihren Beruf liebt. Dass sie arbeiten will. Und tanzen und wandern und reisen. Aber dass ihr Körper sie im Stich lässt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat ME schon 1969 als neurologische Krankheit anerkannt. Doch es wurde kaum zu den Ursachen der Krankheit geforscht. Es gibt keinen „Biomarker“, also etwa einen Bluttest, mit dem man die Krankheit eindeutig nachweisen kann. Und solange es den nicht gibt, herrscht bei dem Thema eine merkwürdige Gleichzeitigkeit von wissenschaftlichen Fakten, Spekulationen und persönlichen Meinungen.

Schon einen ersten Überblick über die Anzahl der Betroffenen zu bekommen, ist gar nicht so leicht. Es gibt nur vage Schätzungen, die Mehrheit der Erkrankten wisse noch nicht einmal, dass sie diese Krankheit haben. Der amerikanische Forscher Leonard Jason von der DePaul University in Chicago hat Ende der neunziger Jahre durch eine breit angelegte Befragung und medizinische Untersuchung der Bewohner der Stadt erforscht, wie viele von ME betroffen sind. Er rechnete die Zahl hoch auf ganz Amerika und kam auf eine Million Erkrankte im Land. Weltweit, schätzt man, sind es womöglich 17 Millionen. In Deutschland geht das Gesundheitsministerium davon aus, dass rund 240 000 Menschen betroffen sind. Experten an renommierten Universitäten in Europa, Australien und den Vereinigten Staaten halten ME für eine Multisystem-Erkrankung.

Das bedeutet: viele unterschiedliche, komplexe Symptome. Wenn meine Cousine sich zu sehr anstrengt, körperlich oder geistig, bricht sie zusammen. Der Körper, so die wissenschaftliche Vermutung, kann Energie nicht richtig umwandeln. Wie bei einem Akku, der immer nur bis zu 20 Prozent lädt. Der Energiestoffwechsel, der Darm und das Immunsystem funktionieren nicht mehr richtig. Aber niemand weiß, was die Ursache dafür ist. Im Gegensatz zur Untersuchung anderer rätselhafter Krankheiten lag die Forschung zu ME jahrzehntelang nahezu brach. Was daran liegen könnte, dass Frauen vermutlich mehr als doppelt so häufig betroffen sind wie Männer. Hier gibt es Parallelen zur Multiplen Sklerose: Lange Zeit verbuchte man die Erkrankung bei Frauen unter „Hysterie“ – bis die Computertomographie erfunden wurde und Läsionen im Gehirn zeigte. Wenn man in Deutschland nach Experten zu ME bei Erwachsenen sucht, stößt man schnell auf Professorin Carmen Scheibenbogen von der Berliner Charité. Die Hämatoonkologin und Professorin für Immunologie leitet seit zehn Jahren die Immundefekt-Ambulanz der Berliner Charité. Nebenbei betreibt sie die ME-Sprechstunde – die bundesweit einmalig ist. Dort stellen sich rund 300 Betroffene im Jahr vor; weil es zu viele sind, können nur noch Berliner Patientinnen und Patienten angenommen werden. Ihre Forschung zu ME finanziert sie mit privaten Spenden. „Das Problem ist, dass viele Ärzte das Syndrom für ein psychisches Leiden halten“, sagt Scheibenbogen. „Um das zu ändern, brauchen wir viel mehr Wissenschaftler und Ärzte für Forschung und klinische Studien – und dafür brauchen wir Geld.“

In Deutschland fehlt es derzeit an Geld aus öffentlichen Töpfen, das in die Untersuchung der Krankheit fließen könnte. Um Forschungsgelder zu vergeben, fordern die zuständigen Gesellschaften eine breite Datengrundlage. Schätzungen, Hochrechnungen, Annahmen reichen nicht. „Doch woher soll man mehr Fakten bekommen ohne das Geld, dazu forschen zu können?“, fragt Scheibenbogen. Solange es diese Forschung nicht gibt, fehlen weiterhin objektiv fassbare Hinweise auf die Krankheit. Was nicht bedeutet, dass die Krankheit nicht zu diagnostizieren ist. Scheibenbogen arbeitet mit den sogenannten „Kanadischen Kriterien“, die international genutzt werden und sehr streng eingrenzen, wer ME hat und wer nicht. Dabei gibt es Grundsymptome, die bei allen Betroffenen vorkommen: Die massive Erschöpfung taucht plötzlich auf und hält an. Der Zustand der Betroffenen verschlechtert sich nach Belastung wie Sport oder Stress. Hinzu kommen immunologische Symptome wie geschwollene Lymphknoten, ständige Halsschmerzen oder anhaltende Entzündungen. Andere Ursachen wie MS oder Krebs müssen ausgeschlossen werden. So hat Scheibenbogen auch meine Cousine diagnostiziert. Die war fast erleichtert, als sie endlich den Beweis hatte, dass sie sich nichts einbildet. Doch jetzt gab es zwar einen Namen für das, was in ihrem Körper passiert, aber kein Heilmittel. Nur Ansätze für eine lindernde Therapie – doch selbst darüber gibt es Streit.

„Ich habe in meiner Sprechstunde viele Patienten, die sehr offensichtlich sehr krank sind, aber jahrelang von ihren Ärzten falsch behandelt wurden“, sagt Scheibenbogen. „Oft wissen die Mediziner zu wenig über die Krankheit oder ordnen sie falsch ein.“ Viele Hausärzte schickten ihre Patienten daher in Reha-Kliniken, verschrieben ihnen Sport. Das kann verheerend sein. Im Jahr 2011 hatte eine große britische Studie gezeigt, dass ME-Patienten körperliche Aktivität hilft. Dabei wurden jedoch die Kriterien dafür, wer wirklich von der Krankheit betroffen ist, viel zu weit gefasst. Es wurde nicht unterschieden zwischen chronischer Müdigkeit nach Depressionen oder anderen Erkrankungen – und tatsächlichen ME-Erkrankten. Deshalb wurde die Studie später von Wissenschaftlern massiv kritisiert. Denn: Handelt es sich um eine Erschöpfung, die durch eine andere Krankheit hervorgerufen wird, bessert sich der Zustand der Patienten durch Sport oft. ME-Patienten hingegen geht es danach viel schlechter. „Weil die Feinsteuerung des autonomen Nervensystems nicht funktioniert.

Unter Belastung werden die Muskeln nicht richtig durchblutet, dann folgt der Crash“, sagt Scheibenbogen. „Sport ist das Schlimmste, was man diesen Menschen empfehlen kann.“ Und dennoch hält sich der Glaube daran hartnäckig. Scheibenbogen plädiert dafür, dass ME-Betroffene mit ihrer Energie haushalten, sich nicht überanstrengen. Meine Cousine weiß genau, wie viel Energie eine Aktivität sie kostet, und plant immer Ruhephasen ein. Eine halbe Stunde Hausarbeit machen, dann eine halbe Stunde liegen. Für jede Verabredung warnt sie vor spontanen Absagen, falls sie doch zu erschöpft ist. Für ihre Hochzeit hat sie eine Ersatzbraut organisiert. Für alle Fälle. Eine Freundin übernimmt das, damit der Bräutigam nicht allein vor dem Pfarrer steht, während seine Braut sich auf einer Kirchenbank ausruhen muss. Ein Leben voller Pläne B – und sie ist noch nicht einmal halb so schwer betroffen wie andere.

Ich nehme über eine Patientenorganisation Kontakt auf zu weiteren Erkrankten. Mehr als 30 Menschen, bei denen ME diagnostiziert wurde, schreiben mir. Viele wurden von ihren Ärzten in psychosomatische Rehas geschickt, dazu angehalten, regelmäßig Sport zu treiben – bis sie zusammenbrachen. Einige können seit Jahren nur in abgedunkelten Räumen liegen, nicht selbständig zur Toilette gehen, fühlen sich vom Gesundheitssystem im Stich gelassen. Oft sei es ein Kampf, auch nur einen Rollstuhl finanziert zu bekommen. Die meisten sind junge Menschen, ehemalige Studierende, Sportler, eine Pianistin, eine Lokführerin, ein Rettungssanitäter. Die meisten haben sich nach einem Infekt nicht mehr erholt. Mir schreiben auch Mütter und Väter von Betroffenen, die ihre Kinder pflegen. Andere schreiben davon, wie sie ihre Jobs verloren haben, von ihren Familien als Faulpelze abgelehnt werden, um sozialrechtliche Anerkennung kämpfen müssen. Wer eine Krankheit hat, für die es noch keinen Biomarker gibt, muss die Gutachter von Behörden und Versicherungen ganz anders überzeugen. Viele Sachbearbeiter haben noch nie von ME gehört. Auch während meiner Recherche treffe ich immer wieder Leute, die mir mit Skepsis begegnen. „Ich würde das nicht weiterverfolgen“, sagt ein Journalist aus meinem Bekanntenkreis, „ich kannte mal jemanden, die hat sich das ausgedacht.“ Eine Ärztin geht zwar davon aus, dass es ME nach einer Infektion gibt, aber viel weniger Leute betroffen sind, als vermutet wird.

In Fachartikeln von Psychologen lese ich: Die Patienten müssten sich nur genug motivieren. Hausärzte wehren sich gegen „zu universitäre“ Einschätzungen von Immunologen und listen ME weiterhin in der Ärzteleitlinie unter „Müdigkeit“. Zwischenzeitlich fühle ich mich wie eine Ermittlerin, die sich bei der Spurensuche verzettelt hat. Wem kann man glauben? Was stimmt? Muss ich doch Medizin studiert haben, um das alles zu durchschauen? Und wie ist das erst für die Erkrankten? Wenn man denen nicht glaubt? Woran ich nicht zweifle, das ist das Leid der Patienten. Und ich bin überzeugt, dass die Rätsel nur zu lösen sind, wenn man weiter dazu forscht.

In Amerika ist es Wissenschaftlern an der Stanford University kürzlich gelungen, einen Bluttest zu entwickeln, der zu 100 Prozent zwischen gesundem Blut und dem Blut von ME-Patienten unterscheidet. Das ist noch kein Biomarker, zeigt aber: Etwas ist nicht in Ordnung. An der Uni Würzburg hat der Biochemiker Bhupesh Prusty herausgefunden, dass sich eine gesunde Zelle in ME-Blutplasma plötzlich wie eine kranke Zelle verhält. Noch ein Hinweis mehr, dass die Ursache der Krankheit mitnichten im Kopf, sondern im Blut der Patienten zu suchen ist.

Auch Professorin Scheibenbogen von der Charité vermutet, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt. Bei fast allen ihrer Patientinnen und Patienten begann die Erkrankung mit einer Infektion. Oft war darunter: das Epstein-Barr-Virus, wie bei meiner Cousine. Scheibenbogen geht davon aus, dass sich während der Infektion das Immunsystem zwar richtig „angeschaltet“ habe, „aber nicht in Gänze wieder ab“. Es bleibt bei den Betroffenen alarmiert – auch nachdem die eigentliche Krankheit überwunden ist. Die Folge: „Der Organismus greift sich selbst an“, sagt die Professorin. „Dafür sprechen die Befunde im Blut der Erkrankten, auch sogenannte Autoantikörper, also solche, die sich gegen den eigenen Körper richten.“ Bisher sind Studien wie diese aber allenfalls Anfänge ohne breite wissenschaftliche Evidenz. Die zahlreichen Hinweise aus Studien von Biochemikern und Immunologen haben zumindest an manchen Stellen zu einem Umdenken geführt.

2015 stufte das Institute of Medicine (heute National Academy of Medicine) die Krankheit als organisch ein. Auch die Centers of Disease Control and Prevention (CDC), eine Bundesbehörde des amerikanischen Gesundheitsministeriums, haben sich dieser Definition angeschlossen. In Norwegen hat sich eine Ministerin bei den Patientinnen und Patienten entschuldigt, die Krankheit falsch eingestuft zu haben. In Dänemark erkannte das Parlament ME im März offiziell als organisch an.Damit sich auch in Deutschland etwas bewegt, haben es sich weniger stark Betroffene selbst zur Aufgabe gemacht, über die Krankheit zu informieren. Sie setzen sich vor allem für diejenigen ein, die nicht mehr selbst kämpfen können. Im Mai stellt meine Cousine Schuhe vor das Brandenburger Tor. Sie gehören Betroffenen, die aus dem öffentlichen Leben verschwunden sind. „Millions Missing“ heißt die weltweite Bewegung, der sich meine Cousine jetzt angeschlossen hat. In einem roten T-Shirt stellt sie sich auf eine improvisierte Bühne und verkündet ins Mikrofon: „Wir können diese Missstände nicht mehr hinnehmen!“ Ihre Stimme hat jetzt etwas Kämpferisches. Zu kämpferisch, heißt es später. „Manche meinten, wir hätten nicht krank genug ausgesehen“, erzählt sie. „Niemand sieht, wie du zu Hause wieder zusammenbrichst.“